Plädoyer für die Abschaffung der Direktmandate, die den Bundestag durch Lokalkolorit statt Kompetenz aufblähen
Kennen Sie „ihren“ MdB, ihren Abgeordneten im Bundestag? Vielleicht, denn weit weniger als die Hälfte der Bürger kennt wenigstens einen der Abgeordneten ihres Wahlkreises. Von daher macht die Verteidigung des „Direktmandats“ durch die Parteien skeptisch und wirft zwangsläufig die Frage nach dem Wert dieser lokalen Direktwahl von Abgeordneten auf. Denn der dadurch übergroße Bundestag kostet Millionen – und er wirft auch die Frage auf, ob solcher Lokalkolorit im Sinne des Grundgesetzes ist. Denn „sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (1)
Der Wahlkreis – bewährter Teil der Stimmensammlung
Sicher, für die organisatorische Abwicklung einer Wahl ist die Einteilung in Wahlkreise sinnvoll. In diesen Einheiten kann übersichtlich und kontrollierbar aus- und nachgezählt werden. Außerdem gibt die Zuordnung von Abgeordneten zu einem Wahlkreis dem einzelnen Bürger und der lokalen Öffentlichkeit einen Ansprechpartner. Mit ihm diskutiert die lokale Politik und für Journalisten ist er lokaler Ansprechpartner zu Themen der Bundespolitik.
Die Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises helfen deshalb, die berühmte Bürgernähe zu stärken, sie sind Bindeglied zwischen „denen in Berlin“ und der lokalen politischen Nachdenklichkeit.
Das Direktmandat – teurer Luxus, ohne Backing im Grundgesetz
Ob allerdings „sein“ Wahlkreis den lokalen Abgeordneten auch ganz allein in den Bundestag hineinwählen soll, ist eine ganz andere Frage. Wahlkreise, das sind ein oder zwei Landkreise, deren Wähler mit ihrem Kreuzchen, der sogenannten Erststimme, dem lokalen Kandidaten das Bundestagsmandat sichern können. Passt das? Nur sie, ohne irgendeine weitere Wählerstimme aus der restlichen Republik?
Der dadurch entstehende Lokalkolorit passt jedenfalls nicht zum oben erwähnten Auftrag des Grundgesetzes, denn danach ist jeder Abgeordnete „dem ganzen Volke verpflichtet“. Es ist der normale Egoismus, dass ein nur in seinem Wahlkreis gewählter Abgeordneter zunächst mal lokal denkt, vor allem bei den vielen Infrastruktur-Aufgaben, die Bundesregierung und Bundestag zu steuern haben. Es ist zweifelsfrei: Das Direktmandat fördert den Egoismus, das lokale Denken – und genau das ist es nicht, was gute Parlamentsarbeit auf Bundesebene und auch in Europa braucht – und was das Grundgesetz verlangt.
Aber weil für ein Direktmandat die Popularität in einem einzigen Wahlkreis genügt, ist es der Liebling der Berufspolitiker, also derer, die sich der Politik lebenslang als Beruf verschrieben haben. Denn wer in seinem Wahlkreis populär ist, hat sein Mandat sicher; ganz unabhängig von seiner Kompetenz. Aber genau dieses Festhalten am Mandat ist das, was gute Politik auf Bundesebene behindert.
Parlamente brauchen Kompetenz – nicht Lokalkolorit
Als die Parlamente bei uns aus nur zwei oder drei Parteien bestanden, hatten die Direktmandate auf die Größe des Parlaments wenig Einfluss. Jetzt aber ist die Parteienlandschaft bunter und damit explodierte dieses System. Deutschland hatte schon mit seinen mindestens 598 Abgeordneten ein sehr großes Parlament. Durch die Direktmandate sind es aktuell 736 Abgeordnete. Das macht es teuer und schwerfällig. Kaum ein anderer Staat erreicht diese Größe.
Die Berücksichtigung aller Direktmandate erzwingt sogenannte Überhangmandate, die dann auf die vorgesehenen 596 Abgeordneten noch obendrauf kommen – und schon mehrfach Zünglein an der Waage waren. Der wählende Bürger will allerdings nicht nur Lokalkolorit. Er will auch Abgeordnete, die kompetent und entscheidungsfähig sind, die durch analytisches Talent, geopolitische Urteilsfähigkeit und durch Entscheidungskompetenz auffallen.
Dass die mit Direktmandat gewählten Abgeordneten dieses System dennoch verteidigen, zeigen die aktuellen Vorschläge. Keine der Parteien stellt das Direktmandat an sich infrage. Man denkt vielmehr an andere Wahlkreisgrößen oder eine Begrenzung der Direktmandate so, dass es bei 598 Abgeordneten für den Bundestag bleibt, ohne aber die Grundsatzfrage nach dem Wert des Direktmandats zu stellen. Befriedigen kann das nicht, es ist ein typischer Kompromiss – und es ginge einfacher.
Die Direktmandate abschaffen – die einfache, aber ungeliebte Lösung
Denn die einfachste Wahlrechtsreform ist, das Direktmandat abzuschaffen. Damit ergibt das jetzige Prinzip der Sitzverteilung nach Landesgröße automatische 598 Abgeordnete. Die Wahlkreise bleiben, aber die ständige Anpassung der Wahlkreise gemäß Parteiinteressen wird uninteressant. Selbstverständlich kann aber erhalten bleiben, dass jeder Wahlkreis „seine“ Abgeordneten hat. Sie bleiben die lokalen Ansprechpartner, nur sind es nicht mehr die Bürger des Wahlkreises allein, die ihn wählen. Fördern können Sie ihn allerdings bei entsprechendem Wahlgesetz dennoch.
Panaschieren – das Fördern der Tüchtigen
Abgeordnete durch eine persönliche Stimme zu fördern, ist in vielen der Landeswahlgesetze vorgesehen, durch das sogenannte Panaschieren. Mit einer Zweitstimme kreuzt man die Kandidaten, die man im Parlament sehen will und rutschen in der Kandidatenliste ihrer Partei entsprechend nach vorn. Dieses System vermeidet die jetzigen Komplexitäten und Kompromisse und befreit die Parteien auch davon, den Lokalkolorit zu übertreiben. Kompetenz und Gender werden die allein bestimmenden Kriterien bei der Aufstellung ihrer Kandidatenlisten. Und die Kompetenz der Abgeordneten ist genau das, was wir stärken müssen. Die kann deutlich zunehmen, wenn der Lokalkolorit zurückgedrängt wird. Es bleiben immer noch Landeslisten – und das ist schon genügend Proporz in einem Bundestag.
(1): https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_03-245126