Gerade erleben wir wieder eine besondere Schwächephase unseres Demokratie-Modells, das nur die Wahl von Parteien kennt ohne themenbezogene Abstimmungen. Es fehlen uns die Erfolgselemente der Schweizer Demokratie, vor allem der korrigierende Bürgerentscheid. Man könnte das gut weiterentwickeln zu einer themenbezogenen Demokratie, wie im Schlusskapitel meiner Bücher Zähmt die Wirtschaft und Abstimmungen beschrieben:
Ein nächstes Plateau der Demokratie – Fachkompetenz durch Themen-Wahl
Auch bundesweite Volksentscheide erfüllen nach meiner Meinung nicht ideal den Willen des Wählers. Sie sind ein nächster Schritt, aber langfristig genügen sie nicht. Die wenigsten Wähler sind mit einem Kreuzchen zum Programm und zur Kandidatenliste von nur einer Partei voll zufrieden, auch wenn es von themenbezogenen Abstimmungen begleitet ist. Im Buch »Zähmt die Wirtschaft« beschrieb ich dieses enttäuschende Gefühl so:
Immer, wenn ich einen Stimmzettel vor mir sehe, wird mir schummrig vor Augen. »Augenpulver« nannte das mein kaufmännischer Kollege, wenn einer der Ingenieure sein ganzes Detailwissen in vielen klein gedruckten Zeilen einer Power-Point-Präsentation niederschrieb, man am Schluss aber nicht wusste, was nun das Wesentliche war. Daran erinnern mich auch die Kandidatenlisten unserer Wahlzettel: Hunderte von Namen, die zur Wahl stehen. Welcher Kandidat wofür kompetent ist, ist von den wenigsten bekannt. Aber genau das erwartet man von einem Repräsentanten: Fachkompetenz in den mir wichtigen Themen, über ein allgemeines politisches Gefühl hinaus. Und zudem wird das zur Liste gehörende Parteiprogramm kaum vollumfänglich zu den eigenen Prioritäten passen. Die zum einzelnen Wähler ideal passende Programmzusammenstellung wird es kaum geben. Per Wal-O-Mat kann man sich das am ehesten passende Programm suchen – oder man hält einen Punkt für den Wichtigsten und negiert den Rest – eine der durch die aktuelle Migrationspolitik bedingten Stärken der AfD.
Im Grunde brauchen wir ein Wahlverfahren, bei dem jeder die Programmvorstellungen unterschiedlicher Parteien kombinieren kann, seinen individuellen Präferenzen entsprechend und nicht eine „Mittelbildung“. Ich nenne den Vorschlag die »Themen-Wahl«.
Wahl themenbezogener Kandidatengruppen
Würden die Parteien ihre Kandidatenlisten nach »Fachgruppen« ordnen, wäre ein Wahlmodell möglich, das dem Bürger erlaubt, themenspezifisch Fachgruppen aus unterschiedlichen Parteien zu wählen. In Anlehnung an das bewährte Schweizer Bürgerratsmodell könnten die Parteiprogramme z.B. in fünf große Themengruppen geordnet werden, also
- Innenpolitik, Rechtsstaat und Sicherheit
- Außenpolitik, Verteidigung und Migration
- Umwelt, Landwirtschaft, Ernährung, Wirtschaft und Infrastruktur
- Gesundheit, Bildung und Soziales
- Finanzen und Steuern
Nun kann jede Partei diesen Aufgabengebieten ihre Kandidaten zuordnen nach Kompetenz bzw. wenigstens nach Interesse – einer Vorstufe der Kompetenz – und hat damit eine fünfteilige, nach diesen Aufgabengebieten geordnete Kandidatenliste.
Erhält jeder Wähler dazu passend fünf Stimmen, so kann er zu jedem der Themenkreise die Kandidatenliste wählen, die seinen Wünschen am besten entspricht. So entsteht die Möglichkeit, Kandidatengruppen nach Programmpräferenz auszuwählen, unabhängig vom Gesamtprogramm einer Partei. Die Bindung des Kreuzchens an eine Partei entfällt, ein „cherry-picking“ wird möglich über Parteigrenzen hinweg.
Entsprechend den Stimmverteilungen würden dann fünf Koalitionen zur Regierungsarbeit gebildet, verteilt über das Parteienspektrum. Die Gruppe mit dem größten Stimmanteil eines Fachgebiets würde deren Minister stellen, zur Mehrheitssicherung gegebenenfalls in Koalition mit entsprechenden Gruppen weiterer Parteien. Die Mitglieder aller Fachgruppen bilden zwar gemeinsam das Parlament, zu Gesetzesvorlagen und Verordnungen könnten aber im Normalfall nur die entsprechenden Fachparlamentarier stimmberechtigt sein – sowie bei budgetwirksamen Gesetzen die Fachgruppe Finanzen und Steuern. Es wäre nicht mehr erforderlich, dass das gesamte Parlament all die vielen tausend Beschlüsse einer Legislaturperiode trifft, sondern nur fachbereichsübergreifende oder sehr grundsätzliche Beschlüsse.
Der heute unübersehbare Wunsch vieler Wähler, im Wahlvorgang über Themenschwerpunkte aus den Parteiprogrammen zu entscheiden und weniger über Personen, wäre damit erfüllt. Und es wäre ein Kulturwandel, der jeden Abgeordneten zwingt, sich zu spezialisieren und so Kompetenz und Tiefgang zu verbessern.
Der Kanzler koordiniert – über die Finanzen
Alle Beschlüsse müssen mit den finanziellen Möglichkeiten des Staates harmonisiert werden. Eine besondere Stellung muss deshalb der Fachgruppe Finanzen und Steuern zukommen. Da sie zwangsläufig in jede andere Fachgruppe hineinregiert, könnte aus dieser Gruppe nicht nur der Finanzminister, sondern auch der Kanzler kommen, als Brücke und Moderator.
Dessen Aufgabe ist aber nun nicht mehr, speziell das Programm seiner Partei durchzusetzen, sondern vielmehr die parteiübergreifende Koordinierung. Er muss sich dabei um Neutralität und Ausgleich bemühen, wie es ja viele Kanzler und Regierungspräsidenten beim Amtsantritt versprechen und muss das »Dach« über den übrigen vier Fachbereichen bilden. Dass dieses Amt dann nicht mehr mit einem Parteivorsitz kombinierbar ist, ergibt sich von selbst.
Es ist ein Demokratie-Modell, bei dem man keine Gesamtliste einer Partei wählen muss, sondern einen fachlichen Block und dabei durchaus zwischen den Parteien springen kann. Die Blockbildung stärkt im Übrigen die Fachkenntnis der jeweiligen Abgeordneten und verringert so den Einfluss von Ideologien.
Keine Regionalinteressen auf Bundesebene
Der bisher übliche »Direktmandat« lokaler Abgeordneter passt bei diesem Modell nicht mehr. Lokale Interessen sind allerdings mit den Aufgaben einer Bundes- oder Europaregierung sowieso nicht wirklich vereinbar. Die Kammer, die regionale Interessen vertreten soll, ist verfassungsgemäß der Bundesrat. Die aus altem Stammesdenken stammende Tradition eines rein regionalen Repräsentanten behindert im Grunde bei Regierungsaufgaben auf Bundes- und Europaebene. Der Wegfall des Direktmandats befreit die Parteien vom Regionaldenken und schafft Konzentration auf den Aufbau kompetenter Fachgruppen zu den fünf genannten Themen.
Zudem hat der Wegfall den Vorteil, dass die Überhangmandate entfallen. Damit kann in Deutschland die von der Verfassung vorgesehene Größe von 598 Mitgliedern des Bundestags in etwa eingehalten werden. Es bietet sich an, jeweils 120 Parlamentarier für jede Fachgruppe vorzusehen, entsprechend einem Parlament von 600 Parlamentariern – sofern man sich im Fall einer Verfassungsreform nicht mit weniger begnügt, beispielsweise mit 100 oder auch nur 80 je Fachgruppe, also 400 bis 500 insgesamt. Dass Abgeordnete Wahlkreise betreuen, sollte natürlich nicht aufgegeben werden als wichtiges Verbindungsglied der Bürger zu ihren Abgeordneten, aber die Direktwahl allein durch diesen Wahlkreis ist dazu nicht erforderlich.
In der 19. Legislaturperiode 2017 bis 21 lag der Deutsche Bundestag wegen der zahlreichen Überhangmandate bei 709 Mitgliedern, mit entsprechenden Konsequenzen für Kosten und Entscheidungsfindung. In der jetzigen Periode besteht der Bundestag sogar aus 736 Abgeordneten. Die direkten Mehrkosten für die zusätzlichen Abgeordneten werden vom Steuerzahlerbund mit mehr als 75 Millionen Euro jährlich geschätzt. Das sind allerdings nur die direkten Kosten, denn überdimensional besetzte Entscheidungsgremien erzeugen durch zusätzliche Debatten und die schwierigere Vernetzung erheblichen Zusatzaufwand, von der zunehmenden Entscheidungsschwäche abgesehen. Zum Vergleich: Das unserem Parlament vergleichbare US-Repräsentantenhaus hat 435 Sitze – und das bei der vierfachen Bevölkerungszahl.
Kompetenter, billiger und demokratischer
Der Natur der Listenentstehung entsprechend werden nun das Interessensgebiet und die fachliche Kompetenz für den Listenplatz entscheidend, was der Qualität und auch der Effizienz der Gesetzgebung zugutekommen dürfte. Da die Überhangmandate wegfallen, ist es zudem billiger und im Übrigen für alle Abgeordneten wesentlich zeitsparender. Denn sie müssen sich ja nur noch mit einem Teil der Themen wirklich beschäftigen – und dies hoffentlich ohne Fraktionszwang. Das Fachgruppen-Modell bringt damit eine wesentlich klarere Umsetzung des Wählerwillens und erhöhte Gesetzesqualität im Vergleich zum heute praktizierten Verfahren.
Wahlen wieder zum Erlebnis machen
Ob nun nur Volksentscheide oder gleich die »Themen-Wahl«, jedes Wahlmodell, das dem Bürger das Gefühl gibt, auch themenspezifisch Einfluss nehmen zu können, würde zwangsläufig die politische Diskussion an Stammtischen, in der Zivilgesellschaft, in den Parteien und in der Bevölkerung beleben und das Verständnis für die Probleme heben. Es mag gelegentlich polarisieren, aber kann durch seine Mehrheitsbeschlüsse auch harmonisieren und den Konsens fördern.