Der kommunale Bürgerentscheid – verantwortungsloser Egoismus?

Zum Konflikt zwischen lokalen und Gemeinwohlinteressen von Peter Grassmann

In den letzten Monaten fielen in Bayern einige Bürgerentscheide, die diese Frage akut werden lassen. Da ist zunächst der große Windpark im Landkreis Altötting, der mehrere Gemeinden umfasst und der entscheidend ist für das dortige energieabhängige Industriegebiet. Da ist es offensichtlich, dass man Bedenken haben muss, wenn dann die einzelnen betroffenen Gemeinden getrennt abstimmen. Denn es kam, wie es kommen musste. In der Gemeinde Mehring stimmten die Bürger dagegen, in der Nachbargemeinde Marktl stimmten die Bürger dann – nach einer ausführlichen Informationskampagne – zu. Unbefriedigend.

Gemeinschaft kann mehr sein als Kommune

In der dafür zuständigen bayerischen Gemeindeordnung ist ein Hinterfragen des tatsächlich betroffenen Gebietes nicht vorgesehen, eine Lücke, die geschlossen werden muss. Naheliegend wäre eine Beurteilung der über die Kommune hinausgehenden Interessen durch den Landkreis oder auch den Regierungsbezirk. Ist die bayerische Staatsregierung offen für solche Lösungen oder will sie Bürgerrechte einfach nur beschneiden? Zweckmäßig wäre jedenfalls, solide Ursachenanalyse zu betreiben.

Gemeinwohlverständnis braucht Information

In Mehring waren die Bürger weitgehend unter sich, der Appell an die übergeordneten Interessen war nur schwach. Da Minister Aiwanger vorgeworfen war, sich wegen der Teilnahme an viele der Bauerndemonstrationen zu wenig persönlich eingesetzt zu haben, war er dann viel in Marktl. Mit Erfolg. Aber es kann nicht die Aufgabe eines Ministers sein, in einer einzelnen Gemeinde für ausreichend Informationen zu sorgen. Die aber ist zwingend notwendig als Hilfe für die Bürger bei ihrer Entscheidung zwischen lokalen Interessen und den Opfern, die solche für die anstehende Energietransformation notwendigen Investitionen nun mal mit sich bringen. Im Ausland ist es deshalb teils Pflicht, einen Bürgerentscheid durch einen Bürgerrat vorzubereiten. Der kam die Pro und Contra sammeln, sie verständlich aufbereiten und muss in der Lage sein, falschen Darstellungen und Populismus zu begegnen. Das hat sich anderswo bewährt und sollte entsprechend auch bei der anstehenden Überarbeitung in Bayern erwogen werden.

„Greenwashing“ missbraucht die Gemeinwohlbereitschaft

Diese beiden Beispiele betreffen die große Aufgabe der Transformation unseres Energiesystems und haben entsprechend hohe Priorität für das Gemeinwohl. Aber das ist nicht immer so. Ein interessantes Beispiel war da der Bürgerentscheid in Schliersee über den Ersatz des historischen Hotels Post durch einen großen Neubau. Die Investoren hofften durch die Wahl einer aufwändigen Holzfassade und nachhaltiger Bauweise Zustimmung für das Projekt gewinnen zu können. Mit erheblichem Werbeaufwand wurde das kombiniert mit der Versprechung von Arbeitsplätzen und mehr Tourismus beim Gemeinderat. Ersteres mag dem einen oder anderen wichtig sein, letzteres aber weniger. Eindeutig war es eine Zerstörung des historischen Ortsbildes durch einen Monumentalbau, noch dazu mit der langfristig fraglichen Optik einer Holzfassade. Und so entschied sich die Bürgerschaft für den Erhalt ihres Ortsbilds und gegen einen neuen Monumentalbau.

Ergänzende Regeln steigern Entscheidungsqualität und Rechtssicherheit

Unsere Gesellschaft steht vor der enormen Aufgabe einer Transformation zur nachhaltigen Nutzung unseres Globus. Das verlangt von jedem Opfer. Wie weit dazu der Einzelne bereit ist, muss jeder für sich entscheiden. Aber er sollte wissen, welche Verantwortung ihm mit seinem Stimmrecht auferlegt ist und wo das Lokale endet. Und das setzt Wissen voraus. Damit wird die Überarbeitung der Gemeindeordnung sich um drei Punkte drehen müssen:

  1. Wie wird ausgewogene Information und ausreichend Diskussion sichergestellt?
  2. Wie definiert man die betroJene Region und wer macht das?
  3. Wie früh und transparent wird bei Bauleitplanungen die Bevölkerung einbezogen, werden die Bedenken der verschiedenen Interessensgruppen abgearbeitet und wann können die Bürger und Bürgerinnen ihr Veto vor dem letzten Planungsbeschluss einlegen?

Es liegt in der Dringlichkeit der laufenden Transformation, dass eine beschlossene Bauleitplanung rechtsfest sein muss. Das aber setzt in einer wirklichen Demokratie die frühzeitige Einbeziehung und Information der Bürger und ausreichend Gelegenheit zum Bürgerentscheid in der betroffenen Region voraus.

Dr. Ing. Peter H. Grassmann war langjährig in Führungspositionen bei Siemens und Carl Zeiss. Er hat mehrere Bücher für mehr Mitbestimmung in der Demokratie geschrieben und ist Mitglied im Kuratorium von Mehr Demokratie.

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