Brandschutz statt Brandmauer

Die Brandmauer war die Problemlösung des Mittelalters gegen Feuersgefahr. Die moderne Zeit hat daraus den Brandschutz entwickelt, eine Kultur des Zusammenlebens, die alle Beteiligten in die Verantwortung nimmt. Das scheint als Gedankenmodell geeigneter als die Metapher der Brandmauer. Denn ein totales Ausgrenzen der zweitgrößten und in Ostland größten Wählergruppe ist mit dem Grundverständnis einer Demokratie nicht vereinbar. Und in der Verantwortung, sich hier um Brandschutz zu kümmern, sind viele: Die Parteien, die Medien, die Parteimitglieder, die inzwischen große Zahl der Abgeordneten in Bund und Ländern und auch die Wähler, letztlich wir alle. Beginnen wir bei den Mandatsträgern, den gewählten Abgeordneten. Denn unter ihnen sind die Abgeordneten, deren Äußerungen der Verfassungsschutz als kritisch einstuft und vor deren Feuern verfassungsfeindlicher Tendenzen warnt.

Die Verantwortung der anderen
Wenn es also um Brandschutz geht, sind die vom Verfassungsschutz nicht aufgeführten „anderen“ Mandatsträger der AfD hier in vorderster Front. Ihre oberste Pflicht ist es, die Wirkung von extremistischen Äußerungen ihrer Kollegen einzudämmen. Denn manche davon sind „Brandstifter“, mit mehr als einem „Poltern“, wie der Schweizer Politologe Professor Eichenberger dieses übliche Gehabe der an den Rand Gedrängten nennt. Aber das muss keineswegs die Mehrheit sein. Matthias Berger, parteiloses Mitglied des sächsischen Landtages, kennt sich da aus. Er hat mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten im sächsischen Landtag versucht, eine Expertenregierung gegen die dann gewählte Minderheitsregierung durchzusetzen. Er sagt über die AfD-Abgeordneten, die ihn unterstützt haben: „Da sind sehr viele „normale“ dabei. Mit denen kann man vernünftig reden“. Und er sagt auch, dass nach seiner Schätzung in etwa die Hälfte der ostdeutschen AfD-Wähler primär Protestwähler sind, aus Unzufriedenheit über die Arbeit der in großen Koalitionen regierenden etablierten Parteien, deren Dominanz kaum einen Unterschied zum alten Parteiendiktat der DDR macht.

Leicht allerdings hat es diese wenig im Rampenlicht stehende Gruppe der „normalen“ Abgeordneten nicht. Denn die innerhalb der AfD übliche hohe Betonung der Meinungsfreiheit bremst, wenn es darum geht, Kollegen wegen ihrer Äußerungen zu kritisieren und sich abzugrenzen. Unglücklich auch für Journalisten, deren Aufgaben ist es, nicht nur über die Polternden zu schreiben, sondern auch die Moderaten, die „Normalen“ zu entdecken. Wie oft haben wir uns gewundert, wenn sich die AfD-Vorsitzende Frau Weidel wand, sich von einem Herrn Höcke oder anderen der extremen Gruppen abzugrenzen.

Differenzierung ist unerlässlich

Aber Differenzierung ist unerlässlich. Was ist brennbar, wie breitet sich das Feuer aus und was entzündet es? Und schon da verheddert sich das Schlagwort der Brandmauer. Es ist zu undifferenziert, auch wegen des mangelnden Hinterfragens durch die Medien. Gegen wen ist die Brandmauer? Nur gegen Abgeordnete, die durch nicht tolerierbare Äußerungen auffallen, gegen alle Abgeordneten, gegen das Parteiprogramm oder gegen alle Wähler der AfD?
Im Verfassungsschutzbericht wird das Grundsatzprogramm der AfD nicht kritisiert. Die Wähler auch nicht. Nur eine große Gruppe von Abgeordneten, deren Äußerungen darauf hindeuten, dass sie die Partei unter Kontrolle bringen wollen, in eine extrem rechte, vielleicht extremistische Richtung. Ja, da ist Brandgefahr und damit stellt sich die Aufgabe eines differenzierten Brandschutzes in einer modernen Demokratie. Es stellt sich die Frage der Verantwortung.

Die Verantwortung der Medien
Unterlassen haben bisher die Medien, die Zusammensetzung der Abgeordneten der AfD umfassend zu analysieren. Allein im Bundestag sind es 142. Die Medien reden über einzelne oder allenfalls über ein Dutzend oder zwei. Das genügt nicht. Wenn Matthias Berger sagt, dass er viele „Vernünftige“ , jedenfalls nicht extrem rechts stehende Abgeordnete kennt, gilt es die, durch die Medien ins Rampenlicht zu holen. Denn diese gilt es zu fördern und mit ihnen darf in einem demokratischen Land kein Diskussionsverbot bestehen. Die „Brandmauer“ ist also allenfalls gegen einzelne Abgeordnete angebracht, vielleicht auch gegen kleine, eindeutig rechtsextreme Parteien. Als Generalaussage gegen die AfD genügt sie nicht.


Die Verantwortung der Parteien

Vielmehr ist es an der Zeit, dass die im Bundestag vertretenden Parteien einen der tatsächlichen Brandgefahr entsprechenden, differenzierten Umgang mit der AfD finden, ein Umgang, der zwischen Ausgrenzung und demokratisch disziplinierter Einbeziehung differenziert.
Dazu gehört auch, für den Wähler besonders wichtige Programmpunkte aus diesem feuergefährlichen Umfeld herauszuholen. Dazu gehört aus meiner Sicht die von der AfD propagierte, systemimmanente Bürgerbeteiligung. Sie war in früheren Jahren immer wieder Thema der führenden Parteien und von Koalitionsverträgen. Der Volksentscheid auf Bundesebene war auch ein zentrales Element des Verfassungsvorschlags des Runden Tisches der DDR, auslösbar durch 750.000 Unterschriften. Denn es ist ein enorm wichtiges Korrektiv gegenüber der Vorherrschaft der zentralen Parteien. Das Eintreten für den bundesweiten Volksentscheid ist eines der Zugpferde der AfD. 
Volksentscheide sind nicht in sich besser, aber sie sind eine klare Forderung der Wissenschaft der Sozialpsychologie, weil Mitsprechen, Mitentscheiden können, ein zentrales Element politischer Zufriedenheit ist. Unser System, alle vier Jahre ein Kreuzchen bei einer Partei zu machen, ist dagegen die schwächste Form einer Demokratie, die man dem Wähler bieten kann – mit entsprechend hoher Unzufriedenheit zum politischen System. Die führenden Parteien wären gut beraten, dieses Thema wieder aufzugreifen, am besten in Kombination mit der Einsetzung eines Bürgerrats zu Petitionen, die eine hohe Schwelle erreichen.

Parteiübergreifend Regieren

„Koalition“ steht nicht im Grundgesetz. Es erlaubt vielmehr, parteineutral, parteienübergreifend zu regieren, also ein Abarbeiten der Gesetzesvorlagen nicht nach Koalitionsvertrag, sondern mit unterschiedlichen Mehrheiten je nach Thema. Wenn das kombiniert würde mit der vom Grundgesetz vorgeschriebenen Disziplin, dass Abgeordnete nicht weisungsgebunden sind, auch nicht an die Weisung ihrer Partei, dann wäre ein parteiübergreifendes All-IN gut möglich, ähnlich dem Konkordanz-System der Schweiz. Der Begriff ist abgeleitet von Concordia, der römischen Göttin der Einigkeit und des sozialen Friedens. Unsere Probleme themenbezogen abzuarbeiten, wäre gerade jetzt der bessere Weg, als jahrelang bindende Koalitionsverträge. Die Einbeziehung ersetzt die klassische Oppositionsrolle und schafft Einblick, unverdünnt durch Kompromisse.

Die Mitglieder sind verantwortlich

Die AfD hatte bei der letzten Bundestagswahl über 10,3 Millionen Wähler und hat 55.000 Parteimitglieder. Sie sind letztlich die Verantwortlichen für den Brandschutz an vorderster Front, also für die Aufstellung von Kandidaten, die nicht zündeln, sondern demokratisch sauber vertreten. Sie, die Mitglieder der Partei sind damit als allererste aufgefordert, dafür zu sorgen, dass radikale Kandidaten die Partei nicht gefährden. Aber auch die Wähler haben mehr Einfluss als nur durch ihr Wahlkreuz. Sie können beitragen durch Mitgliedschaft oder zumindest durch den Appell an Parteimitglieder, diesen Auftrag verantwortungsvoll wahrzunehmen. Und sie können den Dialog suchen mit Abgeordneten, die nicht als rechtsextrem aufgefallen sind.

Letztlich sind es also nicht die als rechtsextrem bekannten Mitglieder der Partei, sondern die mangelnde Kultur unserer Demokratie, mit diesen Brandherden umzugehen. Wenn Feuer ausbricht, wird die Brandmauer nicht helfen. Im Gegenteil, sie verhindert, Brandgefahren zu erkennen und ihnen zu begegnen. Brandschutz ist eine Kultur, keine Mauer.


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